Was ist eine Reverse FMEA?


Der Begriff der Reverse FMEA oder R-FMEA erlangt zumindest im Bereich der automotiven Prozess FMEA eine immer wichtigere Bedeutung. Hersteller, wie z.B. General Motors, PSA, Continental oder Renault fordern bereits jetzt die Implementierung eines solchen Prozesses; eine Ausweitung dieser Anforderungen auch in andere Branchen scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Im Folgenden möchten wir uns mit der Ausgestaltung der Reverse FMEA sowie deren Chancen als praxisnahe Erweiterung der Prozess FMEA beschäftigen.

Ist die Reverse FMEA eine neue Art der FMEA?

Um es gleich vorneweg zu sagen: Nein, die Reverse FMEA ist keine von Grund auf neue Form der FMEA. Vielmehr ist es die inhaltliche Ergänzung einer Prozess FMEA aus einem anderen Blickwinkel. Grundsätzlich ist die FMEA Methodik eine entwicklungsbegleitende Methode der systematischen Analyse von möglichen Fehlerursachen und sollte somit überwiegend präventiv eingesetzt werden.

Und genau hier liegt bei der Reverse FMEA der maßgebliche Unterschied. Die Reverse FMEA stellt ein Reviewverfahren dar, welches sich nicht mehr nur mit angedachten Fehlerursachen beschäftigt, sondern vielmehr den Lean Prinzipien der Gemba Methode folgt: „Gehe an den Ort des Geschehens (der Wertschöpfung) und betrachte dort die Abweichungen zwischen dem erdachten, theoretischen Prozess und den tatsächlich ausgeführten Handlungen.“

Die Reverse FMEA findet somit nicht mehr nur hochtheoretisch im Besprechungsraum statt, sondern wird direkt vor Ort am jeweiligen Prozess- bzw. Tätigkeitsschritt durchgeführt. Auch hier wird im besten Fall ein interdisziplinäres FMEA Team inkl. FMEA Moderator eingesetzt um verschiedene Betrachtungsrichtungen zusammenzuführen. Die Nähe zum Prozess bzw. dem einzelnen Tätigkeitsschritt erlaubt einen Abgleich zwischen den dokumentierten Ergebnissen der Prozess FMEA und den tatsächlichen Produktionsabläufen.

Man kann somit sagen, die Reverse FMEA ist eine „bottom-up“-Betrachtung der Realität anstatt einer idealisierten „top-down“-Perspektive, die die klassische FMEA bietet.

 

Reverse FMEA dient der kontinuierlichen Verbesserung

Das Augenmerk der Reverse FMEA liegt dabei nicht mehr primär auf der Optimierung und Qualifizierung von Produktionsprozessen; dafür wäre es im Stadium der Durchführung der Reverse FMEA ohnehin schon viel zu spät (Serienfertigung). Vielmehr dient der methodische Ansatz langfristige Verbesserungen an der Produktion als Ganzes vorzunehmen und Abweichungen zwischen „gedachten“ und „gemachten“ Arbeitsschritten festzustellen um daraus zu lernen.

In der Regel sollte die Reverse FMEA während der normalen Serienfertigung in festgelegten, regelmäßigen Abständen durchgeführt werden. Gerade Störungen oder atypische Verläufe im normalen Prozess bieten hier ein enormes Beobachtungs- und Verbesserungspotential. Selbst wenn dieses Potential nicht mehr vollumfänglich im aktuellen Prozess realisiert werden kann, so ist u.U. eine wichtige Erkenntnis für eine zukünftige Prozess FMEA und Prozessausgestaltung gewonnen worden.

Zudem bietet sich mit der Reverse FMEA eine wichtige Gelegenheit um auch nicht-wertschöpfende Prozesse näher in der tatsächlichen Ausführung zu beobachten. Reverse FMEA kann somit auch Instandhaltung, Wartung, Rüsten, Schichtübergabe, etc. zum Thema haben und auch in diesen Prozessen kontinuierlich zu Verbesserungen führen.

Nutzen und Ziele der Reverse FMEA

Obwohl die FMEA als Methode stets ihre größte Kraft präventiv entfaltet, werden die Beobachtungen aus der Reverse FMEA selbstverständlich in die bestehende Prozess FMEA aufgenommen und dort weiterverarbeitet. D.h. es werden u.U. neue Fehler und neue Fehlerursachen entdeckt, die auch zu einer Neubewertung von Bedeutung, Vermeidungs- und Entdeckungsmaßnahmen führen können. Dies dient vorrangig dazu, die Prozess FMEA aktuell zu halten und ein Abbild der tatsächlichen realen Situation zu dokumentieren; wenn Maßnahmen notwendig werden, so sind diese ebenfalls umzusetzen. Der größte Zugewinn bietet sich dem Unternehmen aber in Form von zwei weiteren, äußerst wertvollen Ressourcen!

 

1. Zum einen stellen die neuen praxisnahen Erkenntnisse wichtige Elemente für den Lessons Learned Prozess dar und bilden zudem die Grundlage für eine umfassende und wertvolle Wissensdatenbank im Unternehmen.

Erkenntnisgewinn Reverse FMEA (R-FMEA)

2. Zum anderen ist eine derart bearbeitete Prozess FMEA eine ideale Vorlage für zukünfitge Projekte und kann im Rahmen eines intelligenten Basis- und Variantenmanagements (Familien-FMEA) genutzt werden.

Schnittstellen DRBFM FMEA

Die dadurch möglichen Ressourceneinsparungen und Erkentnisszugewinne rechtfertigen schnell den Aufwand für die Umsetzung der Reverse FMEA und weitere Optimierungsmaßnahmen. Lesen Sie dazu auch unseren interessanten Beitrag zur DRBFM Methode – Design Rewiev Based on Failure Mode.

Wann und wie sollte Reverse FMEA durchgeführt werden?

Zunächst gilt es zu sagen, daß bisher von keinem Branchenverband verbindliche Regeln im Umgang mit der R-FMEA erschienen sind. Selbst das gut dokumentierte AIAG & VDA FMEA Handbuch gibt hierzu keine Hilfestellung. Wo gefordert (siehe weiter unten), haben Unternehmen begonnen die R-FMEA in ihre bestehenden Prozesse zu übernehmen und entwickeln eigene Herangehensweisen und Regeln.
Die Häufigkeit der Durchführung einer Reverse FMEA wird maßgeblich von den zur Verfügung stehenden Kapazitäten der Abteilung abhängig sein; die Überprüfung der Prozesse sollte aber mindestens jährlich erfolgen und einer festgelegten Planung folgen. Handlungsbedarf kann auch entstehen, bei/nach:
  • Auditdurchführungen
  • Kundenbeschwerden
  • Zunahme von Ausschuss
  • Prozessänderungen
  • Produktänderungen
  • Unfällen
  • etc.
Ziel der R-FMEA ist es, direkt im Prozess neue Fehlermöglichkeiten, Ursachen und Risiken zu identifizieren, die nicht schon vorher bei der Projektbegleitenden Analyse ersichtlich waren. Erst die aktualisierten Daten spiegeln die reale Situation wieder und müssen ggf. neu bewertet werden.
Ein mögliches Vorgehen bei der Durchführung der R-FMEA kann sich grob wie folgt darstellen:

1. Vorbereitung und Teamzusammenstellung

  • Analog des Scoping Schrittes sollte zunächst der Betrachtungsumfang festgelegt werden, indem die zu betrachtenden Tätigkeitsschritte und damit korrepondierende Arbeitsbereiche festgelegt werden. Stark fehlerbehaftete Bereiche sollten anhand eines wiederkehrenden Rythmus öfter betrachtet werden als unproblematische und stabile Bereiche.
  • Stellen Sie anschließend ein interdisziplinäres Team mit Mitarbeitern aus den verschiedenen Bereichen des Unternehmens auf; diese müssen nicht unbedingt alle am Prozess beteiligt sein (prozessferne Mitarbeiter bringen hier ebenfalls eine neue Sichtweise in die Prozessbetrachtung mit ein). In der Regel steht ein geschulter Mitarbeiter (FMEA Moderator) dem FMEA Team als Methodenspezialist zur Seite.
  • Detailinformationen über das Produkt (Funktionsanalyse, Produkt, Präsentation usw.) und den Prozess (Flussdiagramm, PFMEA, Kontrollplan usw.) helfen dem Team, sich auf die Prozessbetrachtung entsprechend vorzubereiten. Je mehr Dokumente zur Verfügung stehen, desto besser kann ein Abgleich zwischen dem ursprünglich geplanten Prozess und den tatsächlichen Arbeitsabläufen erfolgen.

2. Beobachtungen und Review der P-FMEA  vor Ort

  • Beobachten Sie als Team die Abläufe und Tätigkeitsschritte; häufig lohnt es sich viele Wiederholungen zu betrachten um so auf mögliche Abweichungen zum Standardprozess und auf neue Fehlermöglichkeiten und Ursachen aufmerksam zu werden. Sehen Sie sich alle Tätigkeitsorte und die Wege dazwischen an, auch wenn Sie dort keine unterschiedlichen Abläufe vermuten.
  • Vergleichen Sie anschließend Soll- und Ist-Abläufe miteinander anhand der vorhandenen Dokumente (Flussdiagramm, P-FMEA, etc.) sowie Ihrer Beobachtungen.
  • Überprüfen Sie, ob die vorgegebenen Entdeckungs- und Vermeidungsmaßnahmen für jede in der P-FMEA identifizierte Fehlermöglichkeit wirksam sind und eingehalten werden. Gibt es neue Fehlermodi oder Ursachen, die noch nicht in der P-FMEA dokumentiert sind?
  • Den strengeren kundenspezifischen Forderungen mancher OEM folgend, sollen beim Rewiev bewusst auch fehlerhafte Bauteile erzeugt werden, um die Vermeidungs- und Entdeckungsmaßnahmen ebenfalls auf deren Wirksamkeit zu überprüfen. Die Fehlererzeugung sollte wiederholbar sein, mit reproduzierbaren Ergebnissen bei Vermeidung und Entdeckung sowie jeden dokumentierten Fehlermodus umfassen. Achten Sie darauf sämtliche fehlerhaft erstellten Bauteile zu dokumentieren und aus dem Prozess zu entfernen. (Erzeugung fehlerhafter Teile entgegen vorgegebenen Arbeitsanweisungen birgt ein enormes gesundheitliches Risiko und sollte unter Beachtung von Sicherheitsrichtlinien und nur durch autorisierte Mitarbeiter erfolgen!)

3. Dokumentation und Aktualisierung der Prozess FMEA

  • Sind neue Risiken, also neue Fehlermöglichkeiten oder Fehlerursachen hinzugekommen, so müssen diese identifiziert und in die bestehende FMEA implementiert werden. Sind bestehende Bewertungen aufgrund der neuen Erkenntnisse nicht mehr gültig, so müssen diese angepasst werden, inklusive der für die FMEA vorgesehenen weiteren Schritte (Ursachen, Maßnahmen, Bewertungen, Maßnahmeplan mit Verantwortlichen und Fristen, etc.).
  • Erstellen Sie als zusätzliche Dokumentation einen Durchführungsbericht zur Reverse FMEA; dieser beinhaltet mindestens: Teilnehmer, Datum, betrachtete Arbeitsbereiche, betrachtete Produkte, neu festgestellte Risiken, Fehlermöglichkeiten und Ursachen, Neubewertungen, Maßnahmen, etc. (Änderungsprotokoll). Die zusätzliche Dokumentation ist zwar arbeitsintensiv, dient jedoch als Nachweis der R-FMEA Durchführung.

4. Lessons Learned und Aufbau Wissensdatenbank

  • Die neu gewonnenen Erkenntnisse werden für künftige Projekte in eine Wissensdatenbank überführt oder in Form einer Basis-FMEA für zukünftige Variantenprojekte dokumentiert. Um eine Wiederholung bei ähnlichen Produkten oder Prozessen zu vermeiden, erfolgt für diese ebenfalls eine Risikokontrolle.
  • Sobald die Wirksamkeit der neu eingesteuerten Maßnahmen nachgewiesen ist, müssen Produktionslenkungspläne, Arbeitsanweisungen, vergleichbare Dokumente, etc. ebenfalls aktualisiert werden.

Reverse FMEA Formblatt

Hier stellen wir Ihnen ein mögliches Formblatt zur effektiven Dokumentation der R-FMEA zur Verfügung. Das Formblatt berücksichtigt lediglich die von uns in den kundenspezifischen Forderungen der verschiedenen OEM gefundenen Punkte und sollte von jedem Anwender auf die jeweilige eigene Anforderungssituation angepasst werden. Gerne stellen wir Ihnen auch die Excel-Datei zu Ihrer weiteren Verwendung zur Verfügung, schreiben Sie uns hierfür einfach an.

Reverse FMEA Online Schulung

Fazit und Kritik

Wurde bereits in der Entwicklungspahse, d.h. während der Prozessentwicklung und der Prüfplanung alles sorgfältig gemacht, so dürfte bei der Reverse FMEA kein anderes Ergebnis mehr herauskommen. Dem ist aber nicht der Fall, ganz im Gegenteil: Dies führt dazu, daß die R-FMEA auch als nachträgliche Korrektur einer fehlerhaften oder unvollständigen Entwicklung angesehen wird. Und dies hat mit dem eigentlichen präventiven  Einsatz der FMEA nicht mehr viel zu tun.

Die kritische Frage stellt sich erst, wenn es zu Erkenntnissen kommt, die nach der Produktfreigabe zur Serienproduktion die vorhandene Risikoanalyse als Ganzes in Frage stellen. Die FMEA, als wichtiges präventives Instrument, um strukturiert Fehlerrisiken herauszuarbeiten und dem Management aufzuzeigen, wird durch die Umsetzung der R-FMEA ad absurdum geführt.

Kommt es zudem zu einer Neubewertung von A und E, so verliert die FMEA ihre Funktion als Risikoanalyse gänzlich und wird zu einer Ist-Prozessdarstellung degradiert, die man gelegentlich aktualisiert, wenn nötig.

Nichtsdestotrotz kann die R-FMEA aber auch für einen Wissenstransfer in zukünftige Projekte sorgen. Es ist wichtig, die unschätzbaren Serienerfahrungen ( Reklamationen, Ausschussraten etc..) in einem FMEA Review in die FMEA einfließen zu lassen, um in Folgeprojekten bei der Risikobewertung für die gewählten Fertigungsverfahren auf dokumentierte Erfahrungen zurückgreifen zu können. Diese können Experteneinschätzungen dann sehr wertvoll ergänzen, insbesondere dann, wenn keine Experten zur Verfügung stehen.

Exkurs: Kundenspezifische Forderungen der OEM nach R-FMEA

Die Reverse FMEA hat bislang noch nicht die flächendeckende Verbreitung in alle Branchen erfahren; direkte Forderungen bestehen selbst im etablierten FMEA Umfeld der Automobilindustrie nur seitens bestimmter Hersteller. Folgende Liste (Stand Januar 2022, [1]) konnten wir sichten:

BMW Group – keine spezifische Forderung

Daimler AG – keine spezifische Forderung

Ford Motor Company – Forderung in CSR 8.3.2.1 Design and development planning supplemental

Geely Group – keine spezifische Forderung

General Motors – Forderung in CSR 10.3.1 Improvement – supplemental

IVECO Group

  • The IVECO Group Customer Specific Requirements are under development
    • Planned release by 2nd Quarter 2022

Jaguar Land Rover (JLR) Limited

  • The Jaguar Land Rover (JLR) Limited Customer Specific Requirements are under development
    • Planned in 2022

Renault Group – Forderung in CSR 4.6 Control of nonconforming output (IATF 16949 requirements 8.7.1.28.7.1.7 and 10.2.3
10.2.4) und in CSR evolution 3.a)

Stellantis (ex FCA) – keine spezifische Forderung

Stellantis (ex PSA) – Forderung in CSR 9.1.1.1 Monitoring and measurement of manufacturing processes

Quelle:

1. Customer Specific Requirements, IATF

 

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